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öff-recht blog: Parteiwechsel nach Wahl: Bundesgericht präzisiert Grenzen der politischen Freiheit (Urteil des BGer 1C_223/2023 vom 22. Mai 2024, zur Publikation vorgesehen)

Muthulingam Piriyanthini, in: bratschi öff. Verfahrensrecht blog, Oktober 2024

Das Bundesgericht hat in einem wegweisenden Urteil bestätigt, dass Kandidierende grundsätzlich die Freiheit haben, ihre politischen Überzeugungen und Parteizugehörigkeit zu ändern (E. 7.4). Allerdings gibt es klare Grenzen: Wenn ein Kandidat oder eine Kandidatin bereits vor der Wahl die Absicht hatte, die Partei zu verlassen, und diese Information bewusst verschwiegen wurde, könnte dies als schwere Irreführung gelten. Besonders im Proporzsystem, wie es im Kanton Zürich mit dem «doppelten Pukelsheim» angewendet wird, spielt die Parteizugehörigkeit eine entscheidende Rolle. Eine solche Irreführung könnte das Wahlergebnis verfälschen und die Wahlrechtsgleichheit gemäss Art. 34 Abs. 2 BV verletzen (E. 8.1 ff.).

Der Fall Isabel Garcia

 

Im Zentrum des Falls steht die Wahl von Isabel Garcia in den Zürcher Kantonsrat. Kurz nach ihrer Wahl gab sie ihren Wechsel von der Grünliberalen Partei (GLP) zur FDP.Die Liberalen (FDP) bekannt. Dieser überraschende Parteiwechsel führte zu Diskussionen über die Legitimität ihrer Wahl, insbesondere unter den Wählerinnen und Wählern, die Garcia in der Erwartung gewählt hatten, dass sie die GLP im Kantonsrat vertreten werde. Der Fall wurde schliesslich vor das Bundesgericht gebracht.

 

 

Eintritt auf die Beschwerde trotz Ablauf Rechtsmittel 

 

Die Beschwerdeführenden sahen in Garcias schnellen Parteiwechsel eine erhebliche Beeinflussung des Wahlergebnisses. Sie argumentierten, dass die Wählerinnen und Wähler anders abgestimmt hätten, wenn sie von ihrem bevorstehenden Wechsel zur FDP gewusst hätten. Aus diesem Grund reichten sie eine Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten sowie eine subsidiäre Verfassungsbeschwerde beim Bundesgericht ein. Das Bundesgericht trat zwar nicht auf die Verfassungsbeschwerde ein, entschied jedoch, die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten zuzulassen. Doch warum entschied das Bundesgericht, auf die Beschwerde einzugehen, obwohl die Beschwerdeführenden keinen Stimmrechtsrekurs auf kantonaler Ebene eingelegt hatten?

 

Gemäss dem Zürcher Verwaltungsrechtspflegegesetz (VRG) müssen Beschwerden gegen Wahlergebnisse normalerweise innerhalb von fünf Tagen nach Bekanntgabe des Ergebnisses mittels Stimmrechtsrekurs eingereicht werden. In diesem Fall hatten die Beschwerdeführenden jedoch keinen Rekurs eingereicht, da Garcias Parteiwechsel erst am 23. Februar 2023 – einen Tag nach Ablauf der Rekursfrist – öffentlich bekannt wurde. Somit konnten sie den Parteiwechsel nicht innerhalb der gesetzlichen Frist anfechten (E. 3.3). Das Bundesgericht erkannte, dass den Beschwerdeführenden ein nachträglicher Rechtsschutz zusteht, wenn Unregelmässigkeiten erst nach Ablauf der Rekursfrist bekannt werden. Es verwies dabei auf Art. 29 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 29a BV, die den Anspruch auf Rechtsschutz gewährleisten. Weiter stellte das Gericht fest, dass der Erwahrungsbeschluss des Kantonsrats vom 8. Mai 2023 – die formelle Bestätigung des Wahlergebnisses – kein zulässiges Anfechtungsobjekt darstellt, da er lediglich eine notarielle Funktion hat und keine materielle Prüfung beinhaltet (E. 4.3 f.).

 

Grundsätzlich hätten die Beschwerdeführenden einen Stimmrechtsrekurs an den Kantonsrat erheben müssen, auch nach Ablauf der ordentlichen Frist, da es sich um sogenannte unechte Noven handelt – Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Wahl bereits vorhanden, aber noch unbekannt waren. Allerdings führte das Bundesgericht aus, dass die Beschwerdeführenden aufgrund der bisherigen Praxis, insbesondere gestützt auf ein früheres Urteil (BGE 135 I 19), darauf vertrauen durften, dass sie direkt gegen den Erwahrungsbeschluss Beschwerde erheben konnten. Der Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 9 BV) spielte hierbei eine entscheidende Rolle. Eine Praxisänderung, die eine vorgängige Erschöpfung der kantonalen Rechtsmittel verlangt hätte, hätte vom Bundesgericht zuvor angekündigt werden müssen. Da dies nicht geschehen war, wäre es unverhältnismässig gewesen, den Beschwerdeführenden ihr Rechtsschutzinteresse zu verwehren. Daher trat das Bundesgericht ausnahmsweise auf die Beschwerde ein, obwohl die kantonalen Rechtsmittel nicht ausgeschöpft worden waren (E. 4.6 f.).

 

 

Erwägungen des Bundesgerichts

 

Das Bundesgericht prüfte sodann, ob der Parteiwechsel von Garcia eine Verletzung von Art. 34 Abs. 2 BV darstellt, der die unverfälschte Willensbildung der Stimmberechtigten schützt. Es stellte fest, dass Kandidierende zwar grundsätzlich das Recht haben, ihre Parteizugehörigkeit zu ändern, und dass ein Parteiwechsel allein nicht die politischen Rechte der Wählerschaft verletzt. Allerdings betonte das Gericht, dass diese Freiheit ihre Grenzen dort findet, wo die Wählerinnen und Wähler bewusst über eine wesentliche Tatsache getäuscht werden. In Proporzwahlsystemen wie in Zürich ist die Parteizugehörigkeit von zentraler Bedeutung für die Stimmabgabe. Wenn eine Kandidatin bereits vor der Wahl den festen Entschluss gefasst hat, die Partei zu verlassen, dies aber verschweigt, könnte dies als schwere Irreführung gewertet werden. Das Bundesgericht sah die Vorwürfe der Beschwerdeführenden als ernst genug an, um eine genaue Untersuchung zu rechtfertigen. Da es nicht Aufgabe des Bundesgerichts ist, als erste Instanz Beweise zu erheben, wurde der Fall an das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich überwiesen. Dieses soll nun prüfen, ob Garcia bereits vor der Wahl den Entschluss zum Parteiwechsel gefasst hatte und ob sie diese Information bewusst vor den Wählerinnen und Wählern verborgen hat (E. 7.4 f.).

 

 

Fazit

 

Das Urteil des Bundesgerichts zeigt, dass die politische Meinungsfreiheit der Kandidierenden zwar geschützt ist, aber nicht auf Kosten der Transparenz gegenüber den Wählern gehen darf. Besonders in Proporzwahlsystemen, wo die Parteizugehörigkeit eine wichtige Rolle spielt, könnte eine Irreführung der Wählerschaft zu einer Verletzung der Wahlrechtsgleichheit führen. Mit diesem Entscheid schafft das Bundesgericht Raum für eine nachträgliche Überprüfung, um sicherzustellen, dass das Wahlrecht der Stimmberechtigten geschützt bleibt und dass Unregelmässigkeiten nicht unbemerkt bleiben.

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Piriyanthini Muthulingam

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