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zivilprozessrecht blog: Zuständigkeit für die Beurteilung eines Prozesskostenvorschussgesuchs bei einem in zweiter Instanz hängigen Scheidungsverfahren (BGer 5A_435/2023 vom 21. November 2024)

Wigger Laura, in: bratschi Zivilprozessrecht blog, April 2025

Für den Entscheid über im zweitinstanzlichen Scheidungsverfahren beantragte vorsorgliche Massnahmen i.S.v. Art. 276 ZPO, wie etwa ein Prozesskostenvorschussgesuch, ist die Berufungsinstanz zuständig. Dies ergibt sich aus der Auslegung von Art. 276 ZPO, womit abweichende kantonale Regelungen aufgrund der derogatorischen Kraft des Bundesrechts ausgeschlossen sind.

Am 10. August 2022 sprach das Bezirksgericht Laufenburg die Scheidung der Ehe zwischen den Parteien A. und B. aus und regelte deren Nebenfolgen. Beide Parteien erhoben gegen das Scheidungsurteil Berufung am Obergericht des Kantons Aargau.

 

B. ersuchte für das Berufungsverfahren um die Zusprechung eines Prozesskostenvorschusses zulasten von A. beim Bezirksgericht Laufenburg. Dieses trat nicht auf das Gesuch ein, da es sich nicht als zuständig erachtete.

 

B. gelangte daraufhin an das Obergericht des Kantons Aargau. Dieses verwies auf seine langjährige, auf kantonales Recht gestützte Rechtsprechung, wonach für im Rechtsmittelverfahren gestellte Gesuche um vorsorgliche Massnahmen gemäss Art. 276 ZPO nicht das Berufungsgericht, sondern das Eheschutz- bzw. Massnahmengericht zuständig sei (E. 3.1.). Gegen den entsprechenden Entscheid des Obergerichts gelangte A. ans Bundesgericht.

 

Zumal ein Entscheid über ein Prozesskostenvorschussgesuch eine vorsorgliche Massnahme i.S.v. Art. 276 ZPO resp. Art. 98 BGG beschlägt, kann vor Bundesgericht nur die Verletzung verfassungsmässiger Rechte gerügt werden (E. 2.). Der Beschwerdeführer führte in casu an, die Zuständigkeit des Berufungsgerichts für die Beurteilung eines Prozesskostenvorschussgesuchs im zweitinstanzlichen Scheidungsverfahren ergebe sich aus Art. 276 ZPO, womit die Rechtsprechung des Kantons Aargau die derogatorische Kraft des Bundesrechts (Art. 49 Abs. 1 BV) verletzte (E. 3.2.).

 

Die Beschwerdegegnerin war der Ansicht, die sachliche Zuständigkeit der Gerichte sei eben gerade nicht in Art. 276 ZPO, sondern ausschliesslich in Art. 4 ZPO geregelt und somit den Kantonen vorbehalten (E. 3.3.).

 

Um die Frage nach der Zuständigkeit für den Erlass vorsorglicher Massnahmen im Berufungsverfahren zu beantworten, schreitet das Bundesgericht sodann zur Auslegung des Art. 276 ZPO. Dessen Wortlaut schaffe keine Klarheit, da die Formulierung «das Gericht» primär der Abgrenzung zwischen Scheidungs- und Eheschutzgericht diene (E. 6.1.1.).

 

Demgegenüber spreche der Devolutiveffekt der Berufung für eine Zuständigkeit der Rechtsmittelinstanz, zumal ein Gericht seine Gerichtsbarkeit verliere, sobald es sein Urteil gefällt hat. Ebenfalls dafür spreche, dass Art. 315 ZPO die Zuständigkeit zum Entscheid über die vorzeitige Vollstreckung, die Anordnung sichernder Massnahmen oder die Leistung einer Sicherheit der Rechtsmittelinstanz übertrage. Auch die überwiegende Lehre sei dieser Ansicht (E. 6.2.2.).

 

Gegen die Zuständigkeit des Berufungsgerichts spreche allenfalls, dass ein Gesuch um Prozesskostenvorschuss nicht den Streitgegenstand des Hauptsacheverfahrens betreffe (E. 6.2.2.).

 

Schliesslich sei der in Art. 75 Abs. 2 BGG verankerte Grundsatz des doppelten Instanzenzugs zu beachten. Allerdings sei das Bundesgericht in der Vergangenheit bereits in einigen Fällen davon abgewichen, so insbesondere betreffend durch ein Berufungsgericht angeordnete vorsorgliche Massnahmen im Scheidungs- oder Eheschutzverfahren. Da das Zivilprozessrecht dem oberen Gericht in diesen Fällen die funktionelle Kompetenz einräume und dem kantonalen Organisationsrecht somit kein Mangel vorgeworfen werden könne, würden sich solche Ausnahmen rechtfertigen (E. 6.2.3.).

 

Zuletzt spreche auch die Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung für die gesetzgeberische Absicht, die Berufungsinstanz zum Entscheid über bei ihr beantragte vorsorgliche Massnahmen funktionell zuständig zu erklären (E. 6.3.).

 

Zusammenfassend hielt das Bundesgericht fest, dass Art. 276 ZPO die Zuständigkeit der Berufungsinstanz, bei der das Scheidungsverfahren hängig ist, zum Entscheid über bei ihr beantragte vorsorgliche Massnahmen i.S.v. Art. 276 ZPO vorsehe und somit kein Raum für den Kanton Aargau bestanden habe, diese Zuständigkeit abweichend zu regeln. Der gegenteilige Beschluss der Vorinstanz habe Art. 49 Abs. 1 verletzt (E. 6.4.). Das Bundesgericht hiess die Beschwerde folglich gut (E. 7.1.).

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