Seit rund zwei Jahren unterstellt das Schweizer Kartellgesetz relativ marktmächtige Unternehmen der Missbrauchskontrolle. Bisher wurden nur sehr wenige Fälle entschieden und die WEKO bejahte nur in einem Fall den Missbrauch relativer Marktmacht. Die Unternehmen sind jedoch gut beraten, einer möglichen relativ marktmächtigen Stellung Rechnung zu tragen, zumal sie die von ihnen abhängigen Unternehmen in Bezug auf die Konditionen grundsätzlich gleich behandeln müssen. Ob relative Marktmacht vorliegt, erfordert jeweils eine Prüfung der Beziehung der betreffenden Vertragsparteien im Einzelfall.
Seit dem 1. Januar 2022 unterstellt das schweizerische Kartellgesetz neben den marktbeherrschenden Unternehmen auch relativ marktmächtige Unternehmen der Missbrauchskontrolle. Ein Unternehmen ist relativ marktmächtig, wenn andere Unternehmen von ihm abhängig sind, weil sie keine ausreichenden und zumutbaren Ausweichmöglichkeiten haben (vgl. hierzu meinen Beitrag im bratschiLETTER Compliance April 2022).
Der namentlich im Parlament diskutierte grosse Ansturm an Anzeigen bei der Wettbewerbskommission (WEKO) blieb bisher aus. Stand heute hat die WEKO zwei Untersuchungen im Zusammenhang mit relativer Marktmacht abgeschlossen, wobei sie in einem Fall den Missbrauch relativer Marktmacht bejahte. Ein weiteres Verfahren betrifft den Vorwurf eines Händlers, wonach BMW die Zusammenarbeit nach Millioneninvestitionen unerwartet ohne eine angemessene Übergangslösung unerwartet beendet habe. Der Entscheid der WEKO ist noch ausstehend. In den bisher abgeschlossenen Fällen hat die WEKO keine materielle Harmonisierung mit den Fallgruppen gemäss der deutschen Praxis vorgenommen. Soweit ersichtlich, wurden auch vor den Zivilgerichten nicht zahlreiche Verfahren initiiert, sondern es findet sich lediglich ein publizierter Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft. Dies bedeutetet indes nicht, dass die Einführung der relativen Marktmacht keinerlei Wirkung entfaltet. Die WEKO geht davon aus, dass Verträge von den betroffenen Unternehmen proaktiv angepasst werden und die Bestimmung auf diese Art und Weise Wirkung entfaltet.
Payot / Madrigall: Missbrauch relativer Marktmacht bejaht
Im Fall Payot / Madrigall entschied die WEKO zum ersten Mal, dass ein Unterhemen seine relative Marktmacht missbraucht hatte. Gegenstand des Verfahrens war der Vertrieb französischsprachiger Bücher in der Schweiz. Der Schweizer Buchhändler Payot wollte von der französischen Verlagsgruppe Madrigall Bücher direkt aus Frankreich in die Schweiz importieren. Hierfür verlangte Madrigall von Payot deutlich höhere Einkaufspreise als für die Lieferungen an französiche Buchhändler.
Ob relative Marktmacht vorliegt, prüfte die WEKO anhand folgender drei Kriterien: (i) es besteht eine Abhängigkeit eines Unternehmens vom relativ marktmächtigen Unternehmen; (ii) das abhängige Unternehmen verfügt über keine Gegenmacht; und (iii) das abhängige Unternehmen ist nicht durch grobes Selbstverschulden in die Abhängigkeit geraten.
Bei der Prüfung der Abhängigkeit ermittelte die WEKO die Ausweichmöglichkeiten, die Folgen eines Ausweichens sowie die Zumutbarkeit dieser Folgen. Die WEKO stellte fest, dass es für Payot keine ausreichenden und zumutbaren alternativen Bezugsquellen für Bücher von Madrigall gab. Die daraus resultierenden eingeschränkte Bezugsmengen sowie schlechtere Konditionen wären mit erheblichen Nachteilen verbunden gewesen. Ebenso wenig konnte Payot auf Bücher von Madrigall verzichten, ohne an Attraktivität und Umsatz einzubüssen. Aufgrund der damit einhergehenden substanziellen finanziellen Nachteile war ein Ausweichen für Payot unzumutbar. Die WEKO bejahte im Ergebnis die Abhängigkeit von Payot gegenüber Madrigall. Sodann war die WEKO der Auffassung, dass im Falle einer Beendigung der Lieferbeziehung ein klares Ungleichgewicht der daraus resultierenden Nachteile bestand. Während Payot vollständig auf die Belieferung durch Madrigall angewiesen war, verfügte letztere über zahlreiche alternative Vertriebsmöglichkeiten in der Westschweiz. Die Frage, ob Payot durch grobes Selbstverschulden in diese Abhängigkeit geraten war, erübrigte sich, weil Payot als generalistischer Buchhändler in der Lage sein musste, ihren Kunden die Bücher von Madrigall anzubieten und deren Bezug grundsätzlich nur über das (exklusive) Vertriebssystem von Madrigall möglich war. Die WEKO kam zum Schluss, dass Madrigall gegenüber Payot relativ marktmächtig war.
Relative Marktmacht an sich ist nicht unzulässig. Verboten ist jedoch, wenn ein der relativ marktmächtiges Unternehmen seine Stellung missbraucht, indem es das abhängige Unternehmen im Wettbewerb behindert oder benachteiligt. Laut WEKO missbrauchte Madrigall ihre relative Marktmacht gegenüber Payot, indem von Payot deutlich höhere Einkaufspreise verlangt worden sind als von französischen Buchhändlern und Madrigall nur für einen geringen Teil dieses Aufschlags die Mehrkosten (z.B. höhere Arbeitskosten in der Schweiz) nachweisen konnte.
Als Massnahme zur Wiederherstellung des wirksamen Wettbewerbs verpflichtete die WEKO Madrigall, Payot bei einer Direktbelieferung aus Frankreich grundsätzlich die gleichen Konditionen anzubieten, die auch französischen Buchhändlern gewährt werden. Soweit Mehrkosten nachgewiesen werden können, steht es Madrigall frei, die Einkaufspreise entsprechend zu erhöhen bzw. den Rabatt zu reduzieren.
Gegen die Verfügung der WEKO ist zurzeit eine Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht hängig, d.h. sie ist noch nicht rechtskräftig. Dennoch liefert sie Erkenntnisse, wie die WEKO künftig das Verhalten relativ marktmächtiger Unternehmen beurteilen wird.
Galexis / Fresenius Kabi: Fehlende relative Marktmacht
Im anderen Fall zur relativen Marktmacht, den die WEKO mit einer Verfügung abgeschlossen hat, verneinte sie die relative Marktmacht von Fresenius Kabi und stellte das Verfahren ein. Gegenstand war die Frage, ob das international tätige Pharmaunternehmen Fresenius Kabi seine relative Marktmacht gegenüber Galexis missbrauchte, indem es sich weigerte, Galexis mit Trink- und Sondennahrung sowie entsprechenden Hilfsmitteln zu günstigeren Konditionen aus dem Ausland zu beliefern.
Gemäss WEKO war Galexis nicht von Fresenius Kabi abhängig, da Galexis über ausreichende und zumutbare Ausweichmöglichkeiten verfügte (z.B. hätten die Kunden zum Umsteigen auf vergleichbare Trinknahrung anderer Hersteller bewegt werden können). Zwar führte ein Ausweichen auf alternative Anbieter zu Einbussen bei der Attraktivität des Angebots und des Umsatzes von Galexis. Gemessen an der Finanzkraft erachtete die WEKO die negativen Folgen jedoch als gering und somit als zumutbar. Ebenso verneinte die WEKO ein klares Ungleichgewicht der Nachteile, die den beiden Unternehmen im Falle einer Auflösung der Lieferbeziehung entstehen würden. Die Prüfung des dritten Kriteriums relativer Marktmacht, ob das abhängige Unternehmen durch grobes Selbstverschulden in die Abhängigkeit geraten ist, erübrigte sich ebenso wie die Prüfung, ob das Verhalten von Fresenius Kabi als missbräuchlich anzusehen war. Im Sinne einer Eventualbegründung hielt die WEKO jedoch fest, dass das Verhalten von Fresenius Kabi nicht missbräuchlich gewesen wäre, da die ausländischen Konditionen nur geringfügig besser waren als die für Galexis beim Einkauf über Fresenius Kabi Schweiz geltenden Bedingungen.
Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft i.S. A. GmbH / B. GmbH
Das Kantonsgericht Basel-Landschaft lehnte einen Antrag auf vorsorgliche Massnahmen der A. GmbH gegen die B. GmbH wegen Missbrauchs relativer Marktmacht ab. Die A. GmbH war über 25 Jahre lang alleiniger Distributor für die Waren der B. GmbH in der Schweiz, wobei sie im Verhältnis zu ihrem Gesamtumsatz einen Warenanteil von rund 90% bei der B. GmbH bezog. Die B. GmbH kündigte die bisherigen besonderen Geschäftsbedingungen/Partnerkonditionen mit einer Frist von 6 Monaten. Darin sah die A. GmbH einen Missbrauch relativer Marktmacht, weil es ihr nicht möglich gewesen sei, sich innerhalb einer solch kurzen Frist neu zu organisieren.
Gemäss dem Kantonsgericht vermochte die A. GmbH weder ein Abhängigkeitsverhältnis noch einen durch die Kündigung herbeigeführten nicht leicht wiedergutzumachenden Nachteil (Insolvenzrisiko und Preiserhöhung) glaubhaft zu machen und eine Abhängigkeit sei die Folge unternehmerischer Fehlentscheidungen und somit selbst verschuldet gewesen.
Auswirkungen in der Praxis
Die ersten Entscheide der WEKO zur relativen Marktmacht schaffen mehr Klarheit hinsichtlich der Kriterien zur Beurteilung, ob ein Unternehmen als relativ marktmächtig und inwiefern Einschränkung von Bezugsmöglichkeiten als missbräuchlich anzusehen sind. Diese Erkenntnisse sind auch in das Merkblatt des Sekretariats der WEKO zur relativen Marktmacht eingeflossen, das am 4. Februar 2025 aktualisiert wurde. Entsprechend wird die WEKO den Missbrauch relativer Marktmacht im Sinne der bisher ergangenen Entscheide beurteilen, weshalb diese durchaus von Relevanz für die Praxis sind.
Der Missbrauch relativer Marktmacht wird nicht direkt sanktioniert, aber es drohen langwierige und kostspielige Verfahren, ein Reputationsverlust und Schadenersatzforderungen. Relative Marktmacht resultiert aus der Abhängigkeit des jeweiligen Abnehmers oder Lieferanten, d.h. aus der Beziehung der Vertragsparteien. Entsprechend sind Unternehmen gut beraten, jeweils im Einzelfall zu prüfen, ob sie gegenüber einem Vertragspartner über relative Marktmacht verfügen. Ist dies zu bejahen, müssen abhängige Unternehmen in Bezug auf die Konditionen grundsätzlich gleich behandelt werden. Anfragen von Schweizer Kunden auf Belieferung aus dem Ausland dürfen nicht kategorisch abgelehnt werden und höhere Einkaufspreise für Schweizer Kunden sind nur zulässig, insoweit entsprechende Mehrkosten nachgewiesen werden können.