Blog öffentliches Verfahrensrecht: Eingeschränkte Beschwerdelegitimation des Nachbarn bei der inneren Ausgestaltung eines Bauprojekts

Das Bundesgericht hat am 17. Juni 2020 entschieden, dass eine Nachbarin nicht zur Erhebung einer Einsprache legitimiert ist, wenn sie aus der Gutheissung des Rechtsmittels bei Aspekten der inneren Ausgestaltung, wie bspw. der behindertengerechten Ausgestaltung von Grundrissen, keinen praktischen Nutzen hat (BGer 1C_378/2019 vom 17. Juni 2020).

Zur Einsprache gegen ein Baugesuch, bspw. aufgrund einer Verletzung des Grenzabstands, ist gemäss Art. 153 Abs. 2 des Planungs- und Baugesetzes des Kantons St. Gallen (PBG) berechtigt, wer ein eigenes schutzwürdiges Interesse hat. Andere Kantone kennen vergleichbare Bestimmungen. Für die sogenannte Einsprachelegitimation spielt es keine Rolle, ob man Eigentümerin oder Mieterin des Grundstücks ist. Die Einsprache führende Person, bspw. die Nachbarin eines Bauvorhabens, muss über eine spezifische räumliche Beziehungsnähe zur Streitsache verfügen und einen praktischen Nutzen aus der Änderung oder der Aufhebung des Baugesuchs ziehen. Die räumliche Beziehungsnähe bei gewöhnlichen Bauprojekten ist in der Regel gegeben, wenn sich die Parzelle der Nachbarin in einem Umkreis von nicht mehr als 100 Metern zum Baugrundstück befindet.

Liegt diese besondere Beziehungsnähe vor, kann die Einsprecherin, bspw. die Nachbarin, das Bauvorhaben auf sämtliche geltenden Rechtssätze hin überprüfen lassen. Voraussetzung ist jedoch, dass durch die Gutheissung der Einsprache die Nachbarin entweder tatsächlich oder rechtlich besser gestellt sein muss. Sie muss also aus der Gutheissung einen praktischen Nutzen haben. Dieser kann bspw. darin liegen, dass die geplante Baute oder Anlage bezüglich der Einsprachepunkte überhaupt nicht oder zumindest anders als beabsichtigt realisiert wird.

Neben den grundsätzlichen Vorgaben für die Erstellung von Bauten und Anlagen, wie bspw. dem Grenzabstand, der Gebäudelänge oder -höhe, gibt es auch Reglungen bezüglich der inneren Ausgestaltung von Bauten. So sieht Art. 102 PBG vor, dass Mehrfamilienhäuser ab vier Wohnungen, die neu erstellt oder erneuert werden, hinsichtlich des Zugangs hindernisfrei und bezüglich des Grundrisses anpassbar gestaltet sein müssen.

Diese Vorschrift ermöglicht es grundsätzlich, dass die Einsprecherin vorbringen kann, dass bspw. die Gänge im Inneren von Wohnungen eines Mehrfamilienhauses verbreitert werden müssen, damit der Grundriss entsprechend für die speziellen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen angepasst werden kann. Auch wenn eine entsprechende Auflage in der Baubewilligung zur Einhaltung der Bestimmungen für behindertengerechtes Bauen notwendig wäre, sprich die Gänge im Inneren der Wohnungen des Mehrfamilienhauses die dafür erforderlichen Voraussetzungen tatsächlich nicht erfüllen, hat die Einsprecherin, obwohl sie Recht hat, an Auflagen in der Baubewilligung bezüglich der inneren Raumaufteilung von Wohnungen keinen praktischen Nutzen. Entsprechend fehlt es der Einsprecherin an einem schutzwürdigen Interesse bzgl. der behindertengerechten Raumaufteilung im Inneren von Wohnungen.

Einen praktischen Nutzen hätte die Einsprecherin nur dann, wenn die Raumaufteilung eine merkbare Aussenwirkung auf sie hätte, z.B. deutlich wahrnehmbarer Mehrverkehr. Anders verhält es sich, wenn mit einer angefochtenen Auflage – selbst wenn sie einzig die innere Raumaufteilung betrifft – die gesamte Baubewilligung aufgehoben werden müsste. Dies kann der Fall sein, wenn eine Baute die strassenseitigen Lärmimmissionen nicht berücksichtigt und sämtliche Räume des dauernden Aufenthaltes (insbes. Wohnzimmer/Schlafzimmer) in den Innenhof verlegt werde müssen. Solche Anordnungen ziehen regelmässig eine vollständige Neuprojektierung nach sich. In solchen Fällen hat die Einsprecherin einen praktischen Nutzen, wenn sie die innere Raumeinteilung anficht, weshalb sie im Rechtsmittelverfahren legitimiert ist.

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Datum

31. Dezember 2020

Autor

Andreas Brenner / administriert von Isabelle Häner