Blog öffentliches Verfahrensrecht: Stimmrechtsbeschwerde – rechtzeitige Prüfung nicht möglich

In drei Zwischenverfügungen vom 23. November 2020 (1C_627/2020, 1C_631/2020 und 1C_633/2020) lehnte es das Bundesgericht ab, vorsorgliche Massnahmen gegen das Engagement zahlreicher Kirchgemeinden im Abstimmungskampf um die Konzernverantwortungsinitiative (KOVI) zu erlassen. Zur Begründung seiner Untätigkeit hat das Bundesgericht den kurz bevorstehenden Abstimmungstermin vom 29. November 2020 angeführt und darauf hingewiesen, die Abstimmung könne ja nachträglich aufgehoben werden, falls sie zu Ungunsten der Beschwerdeführer ausgehen sollte. Diese gemächliche Vorgehensweise des Bundesgerichts bei Stimmrechtsbeschwerden, welche in Kontrast zu den kurzen Beschwerdefristen in diesem Bereich steht, ist bezeichnend und darf zu keiner Schwächung des Rechtsschutzes führen.

Zufolge Art. 104 des Bundesgerichtsgesetzes (BGG; SR 173.110) kann der Instruktionsrichter oder die Instruktionsrichterin von Amtes wegen oder auf Antrag einer Partei vorsorgliche Massnahmen treffen – und diese im Falle zeitlicher Dringlichkeit superprovisorisch anordnen –, um den bestehenden Zustand zu erhalten oder bedrohte Interessen einstweilen sicherzustellen. In Stimmrechtsbeschwerden im Vorfeld eidgenössischer Abstimmungen wie beispielsweise der KOVI wird jeweils die Verletzung von Art. 34 BV gerügt, insbesondere die in Art. 34 Abs. 2 BV gewährleistete Wahl- und Abstimmungsfreiheit. Es soll kein Abstimmungsergebnis anerkannt werden, welches nicht den freien Willen der Stimmbürger zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt (vgl. statt vieler BGE 141 II 297 E. 5.2 S. 299). Ziel vorsorglicher Massnahmen im Vorfeld von Abstimmungen ist demnach regelmässig der Schutz des freien Willens der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Soweit die Theorie.

Ergehen Abstimmungsbeschwerden im Vorfeld einer Abstimmung entscheidet das Bundesgericht jedoch materiell regelmässig – so auch im Fall der KOVI – erst nach erfolgter Abstimmung. Der Urnengang wird nach bundesgerichtlicher Praxis nur aufgehoben, wenn die gerügten Unregelmässigkeiten erheblich sind und das Ergebnis beeinflusst haben können. Sollte das Abstimmungsresultat jedoch trotz erheblicher Unregelmässigkeiten zugunsten der Beschwerdeführenden ausfallen, kann das Bundesgericht die Verletzung von Art. 34 Abs. 2 BV lediglich noch feststellen, wobei diesbezüglich gefordert wird, dass sich die mit der Beschwerde aufgeworfene Frage unter gleichen Umständen wieder stellen könnte, an ihrer Beantwortung ein hinreichendes öffentliches Interesse besteht und eine rechtzeitige Prüfung im Einzelfall kaum je möglich ist. Im Sinne einer verfahrensrechtlichen Stärkung der Abstimmungsfreiheit ist zu fordern, dass in solchen Konstellationen zumindest auf das letztere Kriterium zu verzichten ist. Da das Bundesgericht nicht zuletzt aus zeitlichen Gründen kaum je in der Lage ist, eine Abstimmungsbeschwerde vor einer eidgenössischen Abstimmung und damit rechtzeitig zu entscheiden, muss die Voraussetzung, dass eine rechtzeitige Prüfung im Einzelfall kaum je möglich ist, für die nachträgliche Feststellung der Verletzung von Art. 34 Abs. 2 BV wegfallen.

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Datum

31.03.2021

Autor

Livio Bundi / administriert von Isabelle Häner