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Keine Geltung von strafprozessualen Grundsätzen bei internen Untersuchungen!

Wind Christian, in: bratschiLETTER Compliance April 2024

Das Bundesgericht hat am 19. Januar 2024 eine in der Lehre lange kontrovers diskutierte Frage entschieden (BGer 4A_368/2023), dass nämlich die strafprozessualen Garantien keine direkte Wirkung auf interne Untersuchungen haben.

1. Sachverhalt

 

Eine Mitarbeiterin einer Bank meldete der betriebsinternen Ombudsstelle sexuelle Belästigungen durch einen Direktor. Die Bank leitete eine interne Untersuchung ein. Nach deren Abschluss kam die Bank zum Schluss, dass sich der Verdacht erhärtet hatte und die zuständige Disziplinarstelle (nicht die untersuchungsbeauftragten Personen) kündigte folglich dem Direktor ordentlich.

 

Der Direktor klagte danach beim Arbeitsgericht Zürich gegen die Bank wegen missbräuchlicher Kündigung. Die Klage wurde abgewiesen. 

 

Das Obergericht des Kantons Zürich hob in Gutheissung der durch den Direktor erhobenen Berufung das arbeitsgerichtliche Urteil auf und verpflichtete die Bank zur Zahlung einer Entschädigung von CHF 70'000.-- nebst Zins zu 5 %.

 

Die von der Bank beim Bundesgericht eingereichte Beschwerde wurde gutheissen.

 

2. Ausführungen des Bundesgerichts

 

Die strafprozessualen Garantien haben nicht nur deshalb keine direkte Wirkung auf interne Untersuchungen, weil sie nur im Verhältnis zu staatlichen Behörden gelten, sondern auch weil die fraglichen Rechtsverhältnisse grundverschieden sind: So gehen die Parteien eines Arbeitsvertrags freiwillig ein personenbezogenes Dauerschuldverhältnis ein. Anders verhält es sich im Strafverfahren, in welchem die beschuldigte Person unabhängig von ihrem Willen der staatlichen Strafgewalt unterworfen wird.[1] Dies würde konsequenterweise, auch wenn es im Urteil nicht ausdrücklich erwähnt ist, für die zu befragende Person das Recht auf Beizug eines Anwalts und das Recht sich nicht selbst belasten zu müssen ausschliessen und die mit der Untersuchung beauftragte Person müsste ebenfalls nicht am Anfang der Befragung die zu befragende Person auf diese Rechte hinweisen.

 

Zudem sei weder zu beanstanden, dass der Befragte erst zu Beginn des Gesprächs über dessen Zweck und Inhalt erfuhr[2], noch gravierend, dass er keine Vertrauensperson mitnehmen durfte, obwohl das im internen «Merkblatt sexuelle Belästigung» ausdrücklich aufgeführt war, resp. nicht darauf hingewiesen wurde.[3]

 

Die gegenüber dem Direktor vorgebrachten generischen und anonymen Vorwürfe (er habe z.B. bei einem Firmenanlass Mitarbeiterinnen in ungebührlicher Weise berührt, Mitarbeiterinnen im Büro umarmt, am Oberschenkel oder am Rock berührt, habe sich zu den privaten und sexuellen Beziehungen von Mitarbeiterinnen geäussert oder gesagt, dass er es lieber hätte, wenn Frauen High Heels und kurze Röcke tragen) waren für eine interne Untersuchung hinreichend präzis.[4]

 

Gegenüber dem Vorwurf, dass die Identität der betroffenen Personen der befragten Person nicht offengelegt wurde, entgegnete dass BGer, dass ein Zielkonflikt zwischen dem legitimen Selbstverteidigungsrecht des beschuldigten Arbeitnehmers und dem Schutz der meldenden Personen bestehe. In der Lehre sei unbestritten, dass deren Identität vertraulich zu behandeln sei und nicht an die beschuldigte Person weitergeleitet werden dürfe.[5]

 

Zum Argument der Verdachtsbestrafung hielt das BGer fest, dass es im Strafrecht in der Tat keine «Verdachtsverurteilungen» gebe. Demgegenüber seien aber im Arbeitsrecht Verdachtskündigungen zulässig und nicht einmal dann missbräuchlich, wenn sich der Verdacht später als unbegründet erweise.[6]Missbräuchlichkeit liege nur vor, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer leichtfertig und ohne vernünftigen Grund beschuldige, d.h. keine genügenden Abklärungen getätigt werden, oder wenn die Abklärungen den Verdacht nicht erhärten, was im vorliegenden Fall jedoch nicht zutreffe.[7]

 

3. Fazit

 

Fasst man die Ausführungen im Urteil zusammen, so stellen sich die Anforderungen für eine sorgfältige interne Untersuchung gemäss neuster Bundesgerichtspraxis wie folgt dar:

 

  1. Wesentliche Befolgung - wenn vorhanden - der relevanten internen Richtlinien und Merkblätter;
  2. Generische Vorladung zu einer Befragung;
  3. Konkrete Nennung des Zwecks und Inhalts spätestens am Anfang der Befragung;
  4. Befragung durch ein unabhängiges Team;
  5. Befragung von mehreren Personen;
  6. Keine Erforderlichkeit des Hinweises durch die mit der internen Untersuchung beauftragte Person auf die Möglichkeit des Beizugs eines Anwalts oder des Rechts der Nichtselbstbelastung einer befragten Person;
  7. Vorbringen hinreichend präziser Vorwürfe;
  8. Anonymisierte Vorwürfe, d.h. ohne Nennung der Identität der Meldeperson, reichen (Vorrang des Schutzes der Meldeperson);
  9. Durchsicht und Korrekturmöglichkeit des Befragungsprotokolls durch befragte Person;
  10. Ermöglichung der Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme durch befragte Person;
  11. Festhaltung der Ergebnisse in einem Untersuchungsbericht unter Berücksichtigung und Würdigung von belastenden und entlastenden Aussagen.


 

[1]     BGer 4A_368/2023 vom 19. Januar 2024 E. 4.1.

[2]     BGer 4A_368/2023 vom 19. Januar 2024 E. 4.4.1.

[3]     BGer 4A_368/2023 vom 19. Januar 2024 E. 4.4.2.

[4]     BGer 4A_368/2023 vom 19. Januar 2024 E. 4.4.3.

[5]     BGer 4A_368/2023 vom 19. Januar 2024 E. 4.4.3.

[6]     BGer 4A_368/2023 vom 19. Januar 2024 E. 4.4.3.

[7]     BGer 4A_368/2023 vom 19. Januar 2024 E. 4.2.

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Autoren

Wind Christian
Christian Wind
Rechtsanwalt, Partner
Co-Leitung Compliance und Investigations, Wettbewerb und Medien
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