Die Frage, ob eine Partei ihre Leistung verweigern darf, wenn die andere nicht erfüllt, ist in der Baupraxis ein wichtiges und häufiges Thema. Das Bundesgericht hat im neuerlichen Urteil 4A_539/2022 vom 5. April 2023 in Erinnerung gerufen, dass die Einrede der Leistungsverweigerung grundsätzlich nur bei Hauptleistungspflichten im Austauschverhältnis möglich ist. Die vertraglich vereinbarte Abtretung von Gewährleistungsrechten stellt keine solche Hauptleitungspflicht dar, weshalb deren Unterlassung nicht zum Zahlungsrückbehalt durch die Bauherrschaft berechtigt. Konsequenz: Die Bauherrschaft ist in Verzug und muss nebst der Werklohnzahlung auch mit Verzugsfolgen rechnen.
Dem Urteil 4A_539/2022 vom 5. April 2023 lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Die Beschwerdeführerinnen (Bauherrschaft) und die Beschwerdegegnerin (Unternehmerin) schlossen einen Werkvertrag über die Erstellung einer Wohnüberbauung ab, der nach aufgetretenen Unstimmigkeiten durch eine Vollzugsvereinbarung, welche die Abtretung der der Unternehmerin gegenüber Subunternehmern und Lieferanten zustehenden Mängelrechte an die Bauherrschaft zum Inhalt hatte. Die Unternehmerin verlangte von der Bauherrschaft in ihrer Klage CHF 500'000.00 für ausstehenden Werklohn und aufgelaufene Zinsen, wogegen sich die Bauherrschaft mit Beschwerde wehrte, mit der Begründung, die Wohnüberbauung sei nie abgenommen worden und darüber hinaus habe die Unternehmerin auch die Gewährleistungsrechte nicht abgetreten. Deshalb sei die Schlusszahlung wegen Nichterfüllung der vertraglichen Pflichten nicht fällig geworden. Im Übrigen stünden den geltend gemachten Werklohnforderungen auch Gegenforderungen, wie vertragliche Ansprüche aus Minderkosten wegen nicht ausgebauter Wohnungen, gegenüber. Das Handelsgericht des Kantons Zürich hiess die Klage der Unternehmerin gut und verurteilte die Bauherrschaft zur Bezahlung von CHF 500'000.00 nebst Zins zu 5 %, wogegen diese Beschwerde beim Bundesgericht erhob.
Im vorliegenden Fall konnte die Bauherrschaft nicht darlegen, dass es sich bei der Abtretung der Gewährleistungsrechte um eine Hauptpflicht handelte, die in einem Austauschverhältnis zur Bezahlung des Werklohns an die Unternehmerin stand. Das Bundesgericht qualifizierte die Übertragung der Gewährleistungsrechte als eine Nebenleistungspflicht (mangels anderweitiger Parteiabrede), wobei diese von der Unternehmerin durch die erfolgte Wohnübergabe gemäss Bundesgericht auch erfüllt wurde. Mithin fehlte es zwischen der Bauherrschaft und der Unternehmerin an einem Austauschverhältnis gemäss Art. 82 OR. Der Rückbehalt der Bauherrschaft war daher ungerechtfertigt und die Schlusszahlung der Unternehmerin aufgrund der erfüllten Haupt- und Nebenleistungspflichten fällig. Überdies konnte die Bauherrschaft ihre eigene Forderung nicht nach bundesgerichtlichen Anforderungen substantiieren, obwohl sie hierzu aufgrund der aus Art. 82 OR folgenden Beweislast verpflichtet gewesen wäre. Die Beschwerde wurde abgewiesen.
Das aktuelle Urteil des Bundesgerichts 4A_539/2022 vom 5. April 2023, hebt hervor, dass die Einrede der Leistungsverweigerung primär im Austauschverhältnis von Hauptleistungspflichten möglich ist, nicht aber zwischen den Nebenleistungspflichten. Art. 82 OR ist aber auf Nebenleistungspflichten ausnahmsweise anwendbar, wenn die Hauptleistung bei Nichterfüllung der Nebenleistungspflicht praktisch wertlos wäre. Erhebt der Schuldner die Einrede der Leistungsverweigerung, so obliegt es dem Gläubiger zu beweisen, dass er seine eigene Leistung bereits erfüllt oder zumindest angeboten hat.
Für Praktiker im Bauwesen bedeutet dies konkret: