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öff-recht blog: Der vergaberechtswidrig abgeschlossene Vertrag: Bemerkungen zum Urteil 2D_14/2025 des Bundesgerichts vom 19. Mai 2025

Brunner Florian, in: bratschi öff-recht blog, September 2025

Das Bundesgericht entschied mit Urteil 2D_14/2025 vom 19. Mai 2025 über das rechtliche Schicksal eines verfrüht abgeschlossenen Beschaffungsvertrags. Es entschied, dass der Primärrechtsschutz offensteht, wenn der Beschaffungsvertrag noch während der Stillhaltefrist (Art. 42 Abs. 1 IVöB bzw. Art. 42 Abs. 2 BöB) abgeschlossen wird. Zum Tragen kommen kann der Primärrechtsschutz durch (i) die Feststellung der Nichtigkeit des Vertrags, (ii) Anweisungen des Verwaltungsgerichts an die Vergabestelle zu deren vertraglichen Verhalten (z.B. Kündigung des Vertrags) oder (iii) Schadenersatz. Das Urteil stärkt den Rechtsschutz in Vergabeverfahren.

1. Sachverhalt und Rechtsfrage
 

Die Volksschulgemeinde Wängi im Kanton Thurgau (die «Vergabestelle») führte im Jahr 2023 ein Vergabeverfahren durch. Am 4. August 2023 teilte sie der Anbieterin A mit, dass (i) die Anbieterin A ausgeschlossen werde und (ii) die Anbieterin B den Zuschlag erhalten habe. 

Dagegen erhob die Anbieterin A am 4. September 2023 Beschwerde an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, welches die Beschwerde am 8. September 2023 erhielt. Das Verwaltungsgericht räumte der Beschwerde mit Verfügung vom 8. September 2023 die aufschiebende Wirkung ein und untersagte der Vergabestelle einstweilen, den Beschaffungsvertrag abzuschliessen. Die Vergabestellte hatte den Vertrag aber zuvor bereits abgeschlossen, nämlich am Morgen des ersten Tags nach Ablauf der Beschwerdefrist (5. September 2023, 10 Uhr). Darin sah das Verwaltungsgericht einen Verstoss gegen die sog. Stillhalte- oder Standstill-Verpflichtung (Art. 42 Abs. 1 IVöB[1]). Demnach darf die Vergabestelle den Vertrag erst abschliessen, wenn keine Beschwerde erhoben wurde oder wenn einer Beschwerde keine aufschiebende Wirkung zukommt. Das Verwaltungsgericht befand aber, dass sich der Rechtsschutz in der Feststellung der Rechtswidrigkeit erschöpfe, weil der Vertrag bereits abgeschlossen wurde.

Dagegen gelangte die Anbieterin A mit subsidiärer Verfassungsbeschwerde ans Bundesgericht. Sie machte geltend, bei verfrüht abgeschlossenen Verträgen sei der Rechtsschutz nicht auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit beschränkt (sog. Sekundärrechtsschutz); auch der bereits abgeschlossene Vertrag könnte noch aufgehoben werden (sog. Primärrechtsschutz). Somit hatte das Bundesgericht über das rechtliche Schicksal des verfrüht abgeschlossenen Beschaffungsvertrags zu entscheiden. 

 

 

2. Urteil
 

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. Nachfolgend werden die Erwägungen zur Verletzung der Standstill-Verpflichtung (E. 5.3), der Verfügbarkeit des Primärrechtsschutzes (E. 5.4) und dessen Erscheinungsformen (E. 6 und E. 8.2) kurz erläutert:

 

 

2.1 Verletzung der Standstill-Verpflichtung
 

In einem ersten Schritt prüft das Bundesgericht die Standstill-Verpflichtung gemäss Art. 42 Abs. 1 IVöB und sieht diese (wie das Verwaltungsgericht) als verletzt an. Es reicht somit nicht, wenn Vergabestellen bloss die Beschwerdefrist abwarten. Vielmehr muss in tatsächlicher Hinsicht feststehen, dass keine Beschwerde erhoben wurde bzw. dass einer Beschwerde keine aufschiebende Wirkung zukommt. Dafür verweist das Bundesgericht auf die Musterbotschaft zur IVöB, gemäss welcher nach dem Ablauf der Beschwerdefrist bis zum Vertragsschluss gewöhnlicherweise 5 Tage abzuwarten seien; erst dann stehe fest, ob der Vertrag abgeschlossen werden dürfe (E. 5.3.1).

 

 

2.2 Verfügbarkeit des Primärrechtsschutzes
 

In einem zweiten Schritt grenzt das Bundesgericht den vergaberechtswidrig abgeschlossenen Vertrag vom vergaberechtskonform abgeschlossenen Vertrag ab:
 

  • Beim vergaberechtskonform (d.h. unter Einhaltung der Standstill-Verpflichtung) abgeschlossenen Vertrag beschränkt sich der Rechtsschutz auf den Sekundärrechtsschutz: Auch wenn sich der Zuschlag später als rechtswidrig erweist, hat der Beschaffungsvertrag dennoch Bestand. Verlangt werden können nur die Feststellung der Rechtswidrigkeit und gegebenenfalls Schadenersatz (Art. 58 Abs. 2 und Abs. 3 IVöB). 
     
  • Beim vergaberechtswidrig geschlossenen Vertrag steht demgegenüber gemäss dem Bundesgericht auch der Primärrechtsschutz offen. Zu diesem Ergebnis kommt es nach einer Auseinandersetzung mit seiner eigenen Rechtsprechung zum vergaberechtskonform abgeschlossenen Vertrag (E. 5.4.1), der Lehre (E. 5.4.2), den Materialien zur IVöB (E. 5.4.3) und einem Rechtsvergleich (E. 5.4.4). In der vorinstanzlichen Beschränkung des Rechtsschutzes auf den Sekundärrechtsschutz sieht das Bundesgericht eine willkürliche Rechtsanwendung (E. 7.1).

 

 

2.3 Erscheinungsformen des Primärrechtsschutzes
 

In einem dritten Schritt untersucht das Bundesgericht, wie der Primärrechtsschutz konkret zum Tragen kommt. Es prüft die folgenden Lösungsansätze:
 

  • Feststellung der Nichtigkeit des Vertrags: Das Bundesgericht führt aus, dass die Nichtigkeit des Vertrags im Sinne von Art. 20 OR zu prüfen sei, aber nur in aussergewöhnlichen Situationen (z.B. korruptes Verhalten) in Betracht kommte (E. 6.2). 
     
  • Auflösung oder Änderung des Vertrags: Das Bundesgericht verweist auf seine Rechtsprechung, wonach Verwaltungsgerichte im beschaffungsrechtlichen Beschwerdeverfahren nicht direkt in das privatrechtliche Vertragsverhältnis eingreifen dürfen. Daher komme eine verwaltungsgerichtliche Auflösung oder Änderung des Vertrags nicht infrage (E. 6.3.1).
     
  • Anweisungen an die Vergabestelle: Demgegenüber sei ein indirektes Eingreifen in das Vertragsverhältnis zulässig, indem das Verwaltungsgericht der Vergabestelle Vorschriften über ihr vertragliches Verhalten machen könne. Es könne die Vergabestelle z.B. anweisen, den vergaberechtsidrig abgeschlossenen Vertrag im Rahmen der vertraglichen Regelung zu kündigen oder zu verändern.[2] Die Anweisungen müssten aber einer Verhältnismässigkeitsprüfung standhalten. Sie seien nur pro futuro und nicht rückwirkend zulässig, weshalb eine Rückabwicklung des Vertrags «in der Regel ausgeschlossen» sei. Je weiter fortgeschritten die Erfüllung des Vertrags ist, umso weniger kommen somit gerichtliche Anweisungen in Frage (E. 6.3.2).
     
  • Schadenersatz: Falls weder die Nichtigkeit noch eine Anweisung an die Vergabestelle möglich ist, besteht gemäss dem Bundesgericht «stets die Möglichkeit, Schadenersatz zu verlangen» (E. 6.4). Der Schadenersatz ist ein Instrument des Sekundärrechtsschutzes. Das Bundesgericht betont aber, dass der Schadenersatz bei verfrüht abgeschlossenen Beschaffungsverträgen nicht – wie sonst im Beschaffungsrecht üblich (Art. 58 Abs. 4 IVöB) – auf die erforderlichen Aufwendungen für die Vorbereitung und Einreichung des Angebots beschränkt sei (E. 8.2).  Es könnte sich die Frage stellen, ob allenfalls auch positives Interesse verlangt werden kann, was sich aus dem einschlägigen (kantonalen) Verantwortlichkeits- bzw. Staatshaftungserlass ergeben müsse. Im vorliegenden Urteil kann das Bundesgericht diese Frage jedoch offenlassen (E. 8.2). Darauf ist noch zurückzukommen (vgl. unten, Ziff. 3.3).

 

 

2.4 Rückweisung
 

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und weist die Sache an die Vorinstanz zurück. Das Verwaltungsgericht wird nun zu prüfen haben, in welcher Form der Primärrechtsschutz zu gewähren ist. 

Die Beschwerdeführerin wird aus dem Urteil vermutlich nur noch einen beschränkten praktischen Nutzen ziehen können. Die Nichtigkeit kommt nur in Ausnahmekonstellationen in Betracht und Anweisungen an die Vergabestellen scheiden mittlerweile wohl aus, da das beschaffte Bauvorhaben – ein Holzelementbau für den kommunalen Kindergarten – inzwischen fast vollständig realisiert wurde; gemäss den Aussagen der Schulpräsidentin gegenüber den Medien wird das Gebäude im November 2025 bezugsbereit sein.[3] Entsprechend dürfte die Anbieterin A nur noch Schadenersatz geltend machen können.

 

 

3. Würdigung
 

 

3.1 Bedeutung des Urteils
 

Das Urteil bringt eine begrüssenswerte Klärung über das rechtliche Schicksal des vergaberechtswidrig abgeschlossenen Vertrags – ein beschaffungsrechtlicher «Klassiker», über den in der juristischen Literatur schon viel geschrieben wurde[4], mit dem sich aber bisher «nur» die Vorinstanzen des Bundesgerichts zu befassen hatten.[5] Höchstrichterlich wurde die Frage bisher nicht entschieden.[6]

Das Urteil bezieht sich auf eine kommunale Vergabe, die der IVöB 2019 unterstand. Es ist aber auch für Beschaffungen auf Bundesebene im Staatsvertragsbereich von Bedeutung (vgl. Art. 42 Abs. 2 BöB[7]).

 

 

3.2 (Unbegründete) Kritik an den «vagen» Vorgaben 
 

Weil eine Nichtigkeit des vergaberechtswidrig abgeschlossenen Beschaffungsvertrags nur ausnahmsweise in Betracht kommt, ist davon auszugehen, dass künftig bei vergaberechtswidrig abgeschlossenen Verträgen die Anweisungen an die Vergabestelle der «Lösungsansatz der Wahl» sein werden. Diesbezüglich wird kritisiert, dass das Bundesgericht im Rahmen seiner Rückweisung nur vage und kaum umsetzbare Vorgaben gemacht habe.[8]

Dieser Kritik stimme ich nicht zu. Selbstverständlich ist es begrüssenswert, wenn das Bundesgericht in seinen Urteilen klare Vorgaben macht und so Rechtssicherheit für die Beratungspraxis schafft. Seine eigentliche Aufgabe ist es aber, die ihm unterbreiteten Einzelfälle zu entscheiden. Dabei beurteilt es einen Sachverhalt nicht wie eine erste Instanz. Bedeutend ist dies gerade für die Verhältnismässigkeitsprüfung, die auf einem Einzelfallentscheid beruht, den das Bundesgericht nicht vorwegnehmen kann. Es ist daher korrekt, dem Verwaltungsgericht «nur» aufzugeben, die Nichtigkeit, die Verhältnismässigkeit von Anweisungen an die Vergabestelle sowie einen allfälligen Schadenersatz im Sinne der Erwägungen zu prüfen. Ob das Verwaltungsgericht diese Prüfung korrekt vorgenommen hat, ist eine Frage, die sich in einem allfälligen nächsten Rechtsgang vor Bundesgericht stellen kann; das Bundesgericht würde diese Frage dann auf der Basis der Sachverhaltsfeststellung des Verwaltungsgerichts beantworten. 

 

 

3.3 Schadenersatz: Positives Interesse?
 

Das Bundesgericht lässt offen, ob für den Schadenersatz das positive Vertragsinteresse gefordert werden kann (vgl. E. 8.2). 

Im kürzlich ergangenen BGE 150 II 225 ff., auf den das Urteil «Wängi» referenziert, schloss das Bundesgericht den Ersatz des positiven Interesses aus. In jenem Fall wurde der Schadenersatz im Staatshaftungsverfahren unter dem VG[9] des Bundes geltend gemacht. Das Bundesgericht führte aus, dass das positive Interesse nicht ersatzfähig sei: «Das Beschaffungsrecht kennt keinen Kontrahierungszwang, womit der Ersatz des Erfüllungsinteresses ausser Betracht fällt […]. Das muss grundsätzlich auch dann gelten, wenn sich eine Anbieterin, wie die Beschwerdeführerin vorliegend, auf das Verantwortlichkeitsgesetz beruft»[10]. Das Bundesgericht entschied damit eine staatshaftungsrechtliche Frage unter dem VG mit einer beschaffungsrechtlichen Begründung.

Im Urteil «Wängi» betont das Bundesgericht, dass der Schadenersatz für den vergaberechtswidrig abgeschlossenen Vertrag «nach Massgabe des einschlägigen (kantonalen) Verantwortlichkeitsrechts gefordert werden» könne (E. 8.2). Die Frage, ob das positive Interesse unter dem kantonalen Verantwortlichkeitsrecht ersatzfähig ist, musste das Bundesgericht aber nicht beantworten; die Anbieterin A hatte (noch) keinen Schadenersatz gefordert. Damit lässt das Bundesgericht unter dem kantonalen Staatshaftungsrecht eine Türe ein Stück weit offen, die es für das eidgenössische Staatshaftungsrecht mit BGE 150 II 225 ff. geschlossen hatte. Es darf mit Spannung erwartet werden, ob das Bundesgericht die Frage der Ersatzfähigkeit des positiven Interesses in einem allfälligen Rechtsgang entscheiden werden muss. 

 

 

3.4 (Vorsorgliche) Rechtsdurchsetzung 
 

Abschliessend sei auf einen Aspekt der Rechtsdurchsetzung hingewiesen. Das Bundesgericht betont, dass Anweisungen des Verwaltungsgerichts an die Vergabestelle umso weniger verhältnismässig sind, je weiter die Erfüllung des Vertrags fortgeschritten ist. Daran dürften die Anweisungen vorliegend scheitern (vgl. oben, Ziff. 3.4). Umso wichtiger ist es für einen wirksamen Primärrechtsschutz, dass Beschwerdeführende, die sich mit einem verfrüht abgeschlossenen Vertrag konfrontiert sehen, während laufendem Rechtsmittelverfahren ein Gesuch um vorsorgliche Massnahme stellen, um die weitere Vertragserfüllung zu hindern. Ein direkter Eingriff in das Vertragsverhältnis (z.B. Verbot der Leistungserfüllung an die Zuschlagsempfängerin) dürfte auch als vorsorgliche Massnahme nicht zulässig sein.[11] Zulässig ist allerdings eine vorsorgliche Anweisung an die Vergabestelle, die (verhältnismässigen) vertraglichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um die Vertragserfüllung zu hindern.


 

[1]     Interkantonale Vereinbarung über das öffentliche Beschaffungswesen vom 15. November 2019.

[2]     Entsprechend wird es von Bedeutung sein, ob der Vertrag als Auftrag oder als Werkvertrag zu qualifizieren ist (vgl. Art. 404 Abs. 1 OR zum zwingenden jederzeitigen Kündigungsrecht im Auftragsrecht)

[3]     Vgl. Francesca Stemer, Gericht verurteilt Schulgemeinde, Wiler Zeitung vom 19. August 2025, S. 23.

[4]     Vgl. etwa Peter Gauch, Der verfrüht abgeschlossene Beschaffungsvertrag (eine Reprise), BR 2003, S. 5 ff.; Martin Beyeler, Welches Schicksal dem vergaberechtswidrigen Vertrag? Ein Vorschlag, der die Mitte sucht, AJP 2009, S. 1141 ff.

[5]     Vgl. etwa BVGE 2009/19, E. 7 (pro Primärrechtsschutz); KGer Wallis, Urteil A1 22 101 vom 21. Oktober 2022, E. 5 (pro Primärrechtsschutz, aber wegen fast vollständiger Erfüllung nur Feststellung der Rechtswidrigkeit und Schadenersatz). 

[6]     Das kürzlich erschienene staatshaftungsrechtliche Urteil BGE 150 II 225 ff. erging ebenfalls im Nachgang zu einem verfrüht abgeschlossenen Beschaffungsvertrag; dessen rechtliches Schicksal musste in jenem Urteil aber nicht geprüft werden. 

[7]     Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen vom 21. Juni 2019 (SR 172.056.1).

[8]     Vgl. etwa Bernhard Lauterburg, Bundesgericht klärt Rechtsschutz bei verfrüht abgeschlossenen Beschaffungsverträgen (abrufbar unter <https://www.prager-dreifuss.com/de> [besucht am 23. September 2025]); Thomas Müller/Martin Zobl, Bundesgerichtliche Klärungen (und Unschärfen) zu verfrüht abgeschlossenen Beschaffungsverträgen (abrufbar unter <https://www.walderwyss.com/> [besucht am 23. September 2025]).

[9]     Bundesgesetz über die Verantwortlichkeit des Bundes sowie seiner Behördemitglieder und Beamten vom 14. März 1958 (SR 170.32).

[10]    BGE 150 II 225, E. 7.3 S. 241.

[11]    Vgl. dazu BGer, Urteil 2D_14/2025 vom 19. Mai 2025, E. 6.3.1.

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