Übersicht

zivilprozessrecht blog: Ausstand, verspätete Geltendmachung (BGer 4A_299/2023 vom 1. September 2023)

Ehrat Chiara, in: bratschi Zivilprozessrecht blog, Januar 2024

A. reichte am 10. Mai 2021 eine Forderungsklage am Bezirksgericht Winterthur ein. B., leitender Gerichtsschreiber am Bezirksgericht Winterthur, erliess als (nebenamtlicher) Ersatzrichter und Referent sämtliche in diesem Verfahren ergangenen Verfügungen und leitete die Instruktionsverhandlung vom 3. November 2021.

 

Am 12. Dezember 2022 stellte A. ein Ausstandsgesuch gegen B. A. berief sich u.a. auf die Urteile BGE 149 I 14 vom 9. September 2022 und BGer 1B_519/2022 vom 1. November 2022 (nachfolgend „die Präjudizien") und rügte, dass die Tätigkeit von B. als Gerichtsschreiber und Ersatzrichter in derselben Kammer nicht mit dem Anspruch auf ein unabhängiges Gericht zu vereinbaren sei.

 

Das Bezirksgericht Winterthur wies das Ausstandsgesuch ab. Die dagegen erhobene Beschwerde ans Obergericht des Kantons Zürich blieb erfolglos. 

 

A. erhob Beschwerde an das Bundesgericht. 

Das Bundesgericht erinnerte daran, dass eine wesentliche Voraussetzung für die Gutheissung eines Ausstandsgesuchs die unverzügliche Geltendmachung ist. Das Bundesgericht lässt offen, ob „unverzüglich“ mehr als 10 Tage bedeuten kann. Es hält fest indessen fest, dass frühere Ausstandsgesuche, welche 40 und 24 Tage nach Kenntnis des Ausstandsgrundes eingereicht worden sind, als verspätet beurteilt wurden (BGer 4A_104/2015 vom 20. Mai 2015 E.6 und BGer 4A_56/2019 vom 27. Mai 2019 E.4.2). Seien die Umstände, welche die Befangenheit bewirken jedoch derart offensichtlich, so seien diese stärker als eine verspätete Geltendmachung zu gewichten (BGE 139 III 120 E.3.2.2; 134 I 20 E.4.3.2).

 

A. begründete den späten Zeitpunkt der Geltendmachung mit der „neuen rechtlichen Situation“, von welcher A. durch das Präjudiz vom 1. November 2022 Kenntnis nahm. Im Präjudiz vom 9. September 2022 stellte sich der Einsatz von Gerichtsschreibern als Ersatzrichter in derselben Kammer des Obergerichts des Kantons Zürich erstmals als mögliche Gefährdung der richterlichen Unabhängigkeit heraus.

 

Das Bundesgericht wies darauf hin, dass der Zeitpunkt, an dem eine Partei von dem Umstand, welcher den Ausstandsgrund bilde, Kenntnis erhält, als fristauslösend i.S.v. Art. 49 Abs. 1 ZPO wirke und nicht der Zeitpunkt der Rechtsprechung. Somit waren A. bereits mit Erhalt der Instruktionsverfügung vom 14. Mai 2021 die Umstände, welche zu einer möglichen Befangenheit führen könnten, bekannt gewesen.

 

Weiter wies das Bundesgericht darauf hin, dass A. das Ausstandsgesuch erst nach mehr als zwei Monaten nach dem massgeblichen ersten Urteil gestellt habe und im zweiten, zitierten Urteil die Rechtsprechung lediglich wiederholt wurde. 

 

Zum weiteren Argument von A., wonach B. in Anbetracht der Präjudizien von sich aus hätte in den Ausstand treten müssen und so Art. 47 bis 49 ZPO verletzt habe, meinte das Bundesgericht, dass die diesbezüglichen Präjudizien auf Entscheiden hinsichtlich Haftbeschwerden gründeten und für B. nicht dieselben gerichtsorganisatorischen und personalrechtlichen Regelungen gelten wie für die Richter in den angerufenen Fällen. Zudem sei die gerügte Konstellation eine „bewährte Institution im zürcherischen Gerichtswesen“ gewesen und somit nicht als gravierender Mangel zu betrachten.

 

Die Präjudizien hätten aber Appellcharakter und verpflichten die kantonalen Gesetzgeber, Abhilfemassnahmen zu treffen, um so der neuen Rechtsprechung nachzukommen. 

 

 

Zusammenfassung 

Das Bundesgericht wies die Beschwerde aufgrund der verspäteten Geltendmachung ab. In früheren Urteilen wurde die Befangenheit einer ähnlichen Konstellation vom Bundesgericht bejaht. Im vorliegenden Fall handelt es sich um einen hängigen Zivilprozess, in dem die Gerichtsorganisation der neuen Rechtsprechung noch nicht nachgekommen sei. Die Befangenheit sei im vorliegenden Fall nicht derart offensichtlich, zumal die Handhabung der jahrelangen Gerichtspraxis des Bezirksgerichts Winterthur entspräche. Die verspätete Geltendmachung ist somit schwerer zu gewichten als der von A. gerügte Ausstandsgrund.

bratschiBLOG

Autoren

Chiara Ehrat

Mehr zum Thema

bratschiBLOG

zivilprozessrecht blog: Anfechtungsobliegenheit bei qualifizierten prozessleitenden Verfügungen (4A_623/2024 Urteil vom 19. Februar 2025)

Das Bundesgericht stellt fest, dass die Ablehnung der unentgeltlichen Rechtspflege als qualifizierte prozessleitende Verfügung im Zivilprozess nicht...
bratschiBLOG

zivilprozessrecht blog: Zuständigkeit für die Beurteilung eines Prozesskostenvorschussgesuchs bei einem in zweiter Instanz hängigen Scheidungsverfahren (BGer 5A_435/2023 vom 21. November 2024)

Für den Entscheid über im zweitinstanzlichen Scheidungsverfahren beantragte vorsorgliche Massnahmen i.S.v. Art. 276 ZPO, wie etwa ein...
bratschiBLOG

zivilprozessrecht blog: Art. 8a Abs. 3 lit. d SchKG: Hat der Schuldner nach Zahlung der Forderung Anspruch auf Nichtbekanntgabe der Betreibung an Dritte? (Urteil des Bundesgerichts 5A_245/2024 vom 29. August 2024)

Mit dem Urteil 5A_245/2024 vom 29. August 2024 befasste sich das Bundesgericht mit der Frage, ob ein Schuldner gemäss Art. 8a Abs. 3 lit. d SchKG Anspruch...

Unsere Standorte

Zum Kontaktformular