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zivilprozessrecht blog: Erforderlichkeit der Angabe eines Mindestwerts als vorläufigen Streitwert bei unbezifferter güterrechtlicher Forderung in der actio duplex (BGer 5A_108/2023 vom 20. September 2023)

Roelli Luca, in: bratschi Zivilprozessrecht blog, Mai 2024

Das Bundesgericht stellt in diesem Urteil klar, dass die güterrechtliche Auseinandersetzung in einem Scheidungsklageverfahren eine actio duplex darstellt. Deshalb kann die beklagte Partei in ihrer Klageantwort eigene Anträge stellen, ohne formell Widerklage erheben zu müssen. Ihr steht in diesem Verfahren das Recht zu, unbezifferte Anträge gemäss Art. 85 Abs. 1 ZPO zu stellen. Anders als ein Kläger ist sie allerdings nicht dazu verpflichtet, zu Beginn einen Mindestwert als vorläufigen Streitwert anzugeben; sie muss diese Forderung erstmals im Schlussvortrag beziffern.

Das diesem Entscheid zugrundeliegende Verfahren wurde durch A. (Ehemann/klagende Partei) durch Einreichung der Scheidungsklage eingeleitet. B. (Ehefrau/beklagte Partei) erhob im Rahmen dieser Scheidung eine unbezifferte güterrechtliche Forderung gegenüber A., welche sie anschliessend, nach Durchführung des Gutachtens, in ihrem Schlussplädoyer bezifferte. Das erstinstanzliche Gericht in Genf löste die Ehe auf und hiess die güterrechtliche Forderung von B. gegenüber A. gut. Im darauffolgenden Rechtsmittelverfahren machte A. die Unzulässigkeit der unbezifferten Forderungsklage nach Art. 85 ZPO, insbesondere die Nichtangabe eines Mindestwerts als vorläufigen Streitwert, geltend. Im kantonalen Instanzenzug fand A. kein Gehör und erhob daraufhin Beschwerde in Zivilsachen ans Bundesgericht. 

 

Das Bundesgericht führt zunächst aus, dass gemäss Art. 84 Abs. 2 ZPO Forderungsklagen zu beziffern ist und falls dies nicht möglich ist, die klagende Partei gemäss Art. 85 ZPO eine unbezifferte Forderungsklage erheben kann. Diese Ausnahme gilt insbesondere dann, wenn erst das Beweisverfahren ermöglicht, eine bezifferte Forderung zu begründen. Es erinnert daran, dass die klagende Partei ihre Forderung beziffern muss, sobald sie dazu in der Lage ist (Art. 85 Abs. 2 ZPO). Das Bundesgericht versteht darunter die erste prozessuale Gelegenheit, die direkt auf die Beweisaufnahme oder die Erteilung der erforderlichen Auskünfte durch die beklagte Partei folgt, nämlich die Schlussvorträge. Die klagende Partei muss allerdings bei der Klageerhebung einen Mindestwert als vorläufigen Streitwert angeben (Art. 85 Abs. 1 ZPO). Der Grund dafür liegt gemäss dem Bundesgericht in erster Linie in der Bestimmung der sachlichen Zuständigkeit des Gerichts und der Art des Verfahrens; zudem kann die Angabe eines Mindestwerts auch notwendig sein, um den Kostenvorschuss und die Sicherheitsleistung festzulegen (E. 5.2.1).

 

Vorliegend hat allerdings die beklagte Partei die unbezifferte Forderung erhoben. Dazu erwägt das Bundesgericht, dass die güterrechtliche Auseinandersetzung in einem Scheidungsklageverfahren eine actio duplex sei. D.h. die beklagte Partei kann in ihrer Klageantwort eigene Anträge stellen, ohne formell Widerklage zu erheben. Das Bundesgericht sieht keinen Anlass, von der Regelung betreffend der unbezifferten Forderungsklage nach Art. 85 ZPO grundsätzlich abzuweichen. Deshalb steht auch der beklagten Partei das Recht zu, unbezifferte Anträge gemäss Art. 85 Abs. 1 ZPO zu stellen. Allerdings verlangt das Bundesgericht von der beklagten Partei nicht, dass ein Mindestwert als vorläufiger Streitwert angegeben werden muss. Es begründet dies damit, dass bei der Anwendung dieser Anforderung kein überspitzter Formalismus an den Tag gelegt werden darf und dem Streitwert der güterrechtlichen Forderung der beklagten Partei in dieser Konstellation nur eingeschränkte Tragweite zukommt. Weder die sachliche Zuständigkeit noch die anwendbare Verfahrensart sind von der güterrechtlichen Forderung der beklagten Partei abhängig und ein allfälliger Kostenvorschuss wird nicht vom Wert der güterrechtlichen Forderung beeinflusst. Der klagenden Partei hilft, so das Bundesgericht, die Angabe eines Mindestreitwerts im Güterrechtsstreit der Gegenpartei nicht entscheidend dabei, sich zu verteidigen. Die klagende Partei ist in der Regel selbst in der Lage, das Risiko des angestrebten Prozesses abzuschätzen (E. 5.2.2 und 5.3).

 

Gestützt auf diese Ausführungen weist das Bundesgericht die Beschwerde von A. als unbegründet ab. B. muss keinen Mindestwert angeben und sie hat die Anträge rechtzeitig in den Schlussplädoyers beziffert. 

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Autoren

Luca Roelli

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