Übersicht

öff-Recht blog: Koordinationspflicht bei mehreren Beschwerden gegen den Zuschlag

Brunner Florian, in: Bratschi Öff. Verfahrensrecht Blog, 31. Oktober 2022

Das Bundesverwaltungsgericht muss Beschwerden mehrerer Anbieterinnen gegen eine Zuschlagsverfügung nicht zwingend vereinigen. Es muss die separaten Beschwerdeverfahren aber materiell koordinieren und einheitlich entscheiden. Dies entschied das Bundesgericht im Februar 2022 (BGE 148 I 53 ff.). Dem Entscheid ist zuzustimmen. Allerdings lässt er sich nicht unbesehen auf Verfügungen ausserhalb des Vergaberechts übertragen.

Das Bundesverwaltungsgericht beurteilte mehrere Beschwerden gegen dieselbe Zuschlagsverfügung in getrennten Verfahren, ohne diese miteinander zu koordinieren. Das Bundesgericht erachtet dieses Vorgehen als rechtswidrig. Es entschied, dass kein Zwang zur Vereinigung der Beschwerden besteht, aber eine materielle Koordination der Beschwerdeverfahren erforderlich sei, welche wie folgt sicherzustellen ist (BGE 148 I 53, E. 4.3 ff. S. 60 ff.):

Zeitliche Koordination: Das Bundesverwaltungsgericht muss alle Beschwerden gegen dieselbe Zuschlagsverfügung zeitlich parallel instruieren und entscheiden (E. 4.3.1).

Wahrung der Verfahrensrechte aller Anbieterinnen: Das Bundesverwaltungsgericht muss allen an den verschiedenen Beschwerdeverfahren beteiligten Anbieterinnen das rechtliche Gehör gewähren. Die beschwerdeführende Anbieterin 1 darf sich somit auch zum Standpunkt des beschwerdeführenden Anbieters 2 äussern (E. 4.3.2).

Gleicher Spruchkörper: Schliesslich muss das Gericht in derselben Besetzung entscheiden, so dass alle Richterinnen und Richter über alle Aspekte der Verfahren im Bild sind (E. 4.3.3).

Die materielle Koordination soll einen einheitlichen Entscheid über alle Beschwerden sicherstellen. Das Erfordernis eines einheitlichen Entscheides ergibt sich aus einer Besonderheit des Vergaberechts, der sog. «ungeteilten Wirkung» des Zuschlages. Wegen dieser kann das Bundesverwaltungsgericht den Zuschlag nicht in separaten Verfahren einmal der Anbieterin 1 und einmal der Anbieterin 2 erteilen. Es kann auch nicht im Verfahren 1 den Zuschlag neu erteilen und im Verfahren 2 den Abbruch des Vergabeverfahrens anordnen (BGE 148 I 53, E. 4.1 f. S. 59 f.).

Dem Urteil des Bundesgerichts ist zuzustimmen. Es lässt sich aber nicht unbesehen auf Verfügungen ausserhalb des Vergaberechts übertragen, weil sich die materielle Koordinationspflicht aus dem materiellen Vergaberecht ergibt.

BGE 148 I 53 ff. führt nicht dazu, dass im öffentlichen Prozessrecht mehrere Beschwerden gegen dasselbe Anfechtungsobjekt immer zwingend koordiniert und einheitlich entschieden werden müssen. Eine materielle Koordinationspflicht besteht nur, wenn das materielle Recht ausnahmsweise einen einheitlichen Beschwerdeentscheid erfordert (sog. Erga-Omnes-Wirkung der Verfügung). Diskutiert wird dies z.B. im Übernahmerecht (Anfechtung eines öffentlichen Kaufangebots).

 Keine Koordinationspflicht besteht, wenn es nicht zu widersprüchlichen Entscheiden kommen kann. Ein und dieselbe Verfügung kann gegenüber der Beschwerdeführerin 1 aufgrund deren individuellen Situation rechtswidrig sein, womit sie ihr gegenüber aufzuheben ist, während sie gegenüber dem Beschwerdeführer 2 rechtmässig ist und ihm gegenüber bestehen bleibt. Zu denken ist etwa an eine seuchenpolizeilich motivierte Schliessungsanordnung für alle Betriebe auf einem bestimmten Areal (vgl. Art. 40 Abs. 2 lit. c EpG), die für den Betrieb 1 unverhältnismässig (z.B. weil die betreffende Krankheit dort gar nicht übertragen werden kann) ist und für den Betrieb 2 (wo die Krankheit übertragen werden kann) verhältnismässig ist. In einem solchen Fall besteht für die Beschwerden der Betriebe keine materielle Koordinationspflicht.

Autoren

Brunner Florian
Florian Brunner
Rechtsanwalt
Zürich
Zum Profil

Mehr zum Thema

bratschiBLOG

öff-recht blog: Strassenlärmsanierung als Daueraufgabe?

Das Bundesgericht bejahte in einem weitreichenden Urteil den Anspruch der von Strassenlärm betroffenen Anwohnerinnen und Anwohnern auf Wiedererwägung einer...
bratschiBLOG

öff-recht blog: Vernehmlassung zum Gesetz über digitale Basisdienste im Kanton Zürich

Heute eröffnete die Staatskanzlei des Kantons Zürich die Vernehmlassung zum Gesetz über digitale Basisdienste, die bis zum 13. Mai 2024 dauern wird. Die...
bratschiBLOG

öff.-Recht blog: (Kein) Versehen im Sinne von Art. 121 lit. d BGG?

Das Bundesgericht wies ein Revisionsgesuch des Staatsrates des Kantons Freiburg ab. Es erachtete es nicht als Versehen, dass es erhebliche...

Unsere Standorte

Zum Kontaktformular